Ein kurioser Belagerungsbrief von 1870
Ein dreifach ungewöhnlicher Faltbrief aus 1870 kam im Mai 1980 in meinen Besitz: (1) Von einem Regierungsmitglied in Paris an ein Regierungsmitglied der Delegation in Tours gerichtet, ist dieser Ballonbrief dennoch voll frankiert. (2) Der Inhalt, obwohl postgeschichtlich nicht direkt einschlägig, ist für die politische Geschichte höchst bedeutsam. Da diese aber oft die Postgeschichte bedingt, besonders in Kriegszeiten, ist der Inhalt also auch indirekt von postgeschichtlichem Interesse. (3) Das Schicksal des Briefes beleuchtet einen bisher fast völlig unbekannten Aspekt der Postgeschichte dieser Belagerungspost.
Der Brief wurde aus Paris von LouisAntoine Garnier-Pages (damals 67 Jahre alt) an seinen Freund Alexandre Glais-Bizoin (70 Jahre alt) gesandt. Letzterer war Minister ohne Portefeuille und Mitglied des Triumvirates, das von der Pariser Regierung als deren Delegation Mitte September 1870 nach Tours geschickt wurde.
Nebenbei sei bemerkt, dass es oft heisst, diese ursprüngliche Delegation du Gouvernement sei am 13. September umgesiedelt. Chaintrier schrieb jedoch, dass sich der Übergang vom 13. bis zum 17. erstreckte, dem Ankunftstage von Glais Bizoin. a)
Der Inhalt des Briefes folgt hier in seinem ursprünglichen Wortlaut:
Paris, le 27octobre 1870
Man eher ami
Vous vous plaignez de ne pas recevoir assez souvent de nos lettres. Mais le Moniteur vous donne le resume de nos travaux. Nous trouvons de notre cote que vos renseignements manquent de precision. Je vous ecris officieusement et non officiellement car je ne veux pas etre accuse de faire des excursions sur les attributions de nos collegues. Cependant je crois utile de vous transmettre quelques avis dont vous ne prendrez note qu'autant qu'ils seraient en Harmonie avec les instructions officielles. Le general Trochu, Le Flö et autres generaux sont pleins de conflance dans la force et la vigueur de nos troupes. Nous elargissons la ligne d'envahisseurs, et nous rouvrons les tetes de nos chemins de fer. Notre artillerie devient formidable. Voilä pour la guerre . . Les hommes d'argent ouvrent leurs sacs et les billets de banque de 1000 f s'echangent pour la modique prime de 3 f. II a ete decide hier que nous aurions chaque semaine une seance financiere dans laquelle nous examinerions les comptes de chaque ministere. II faut que le Gouvernement de Tours etablisse aussi exactement ses recettes et ses depenses. Le Souvenir de 1848 fut vivement epluche, vous devez vous le rappeler. Heureusement, tout etait en ordre. Cela dit, on a trouve que vous ne nous aviez pas suffisamment transmis les renseignements que Bourbaki a du vous donner sur Bazaine et sur ses dispositions politiques et militaires. Maintenant, voici une Serie de questions que je vous pose. Et si Gambetta pouvait donner des
flws st/r chacune d'elles, j'ai la conviction qu'il ferait grand plaisir ä Trochu, ä Favre et aux autres membres du Gouvernement. En outre U rendrait un Service Signale au Pays.
La ligne prussienne qui entoure Paris est etablie sur les hauteurs de Chätillon, Clamart, Meudon, Sevres, St. Cloud, les hauteurs de La Celle St. Cloud, Bougival, Chatou, Carrieres St. Denis, Bezons, Argenteuil, Epinay, Pierrefltte, Stains, Dugny, Le Bourget, Drancy, Ferne de Bondy, Gagny, Noisy le Grand, Villiers sur Marne, Champigny sur Marne, Chennevieres, Bonneuil, Montmesly, Choisy le Roi, Thiais, Chevilly, Hay [les Roses], Bourg la Reine, Fontenay et Chätillon.
Vous comprendrez Sans aucune doute de quelle utilite serait, pour la defence de Paris, la connaissance de la profondeur de la ligne prussienne sur tous les points. Des eclaireurs habiles pourraient peut-etre donner des notions süffisantes qui feraient apprecier cette profondeur. Ces eclaireurs en s'avancant vers Paris de divers cotes, devraient sonder toutes les routes, tous les passages, tous les cours de rivieres, de teile Sorte qu 'on puisse etablir la ligne exterieure des armees qui entourent Paris. H serait egalement important de faire connaitre les corps detaches de l'ennemi pour son ravitaillement.
Vous comprendrez Sans aucune doute de quelle utilite serait, pour la defence de Paris, la connaissance de la profondeur de la ligne prussienne sur tous les points. Des eclaireurs habiles pourraient peut-etre donner des notions süffisantes qui feraient apprecier cette profondeur. Ces eclaireurs en s'avancant vers Paris de divers cotes, devraient sonder toutes les routes, tous les passages, tous les cours de rivieres, de teile Sorte qu 'on puisse etablir la ligne exterieure des armees qui entourent Paris. H serait egalement important de faire connaitre les corps detaches de l'ennemi pour son ravitaillement.
Je vous multiplierais les demandes, tous nous
avons soif de documents, dont nous sommes prives depuis si longtemps. J'ai hon espoir pour l'oeuvre que nos generaux doivent accomplir sur les flancs de l'ennemi, dans les Vosges et dans le Nord. Je vous le repete, je vous exprime ici man sentiment personnel. Je vous ecris amicalement et conftdentiettement. Prenez de ma lettre ce que vous voudrez, mais le tont est dicte par man patriotisme et par man affection pour tous.
A vous de coeur
Garnier Pages
Nun könnte man die Echtheit des Textes bezweifeln oder glauben, die Unwissenheit dieses Regierungsmitgliedes sei vorgetäuscht oder ein Zeichen seiner Unfähigkeit. Dass all das nicht der Fall war, bezeugt ein Brief eines anderen Pariser Regierungsmitgliedes, Pierre Clement Eugene Pelletan.b) Der übersetzte Text des abgefangenen Briefes enthält u.a.:
Wir werden von den Preußen unter Schloss und Riegel gehalten. Seit dem 26. Oktober bereits ist uns aus Tours nur durch Thiers Nachricht zugegangen; die Brieftauben, sonst unsere alleinigen Couriere, kehren auch nicht mehr zu uns zurück.
Dieser Brief wurde nach den Unruhen vom 31. Oktober geschrieben und anscheinend mit dem Ballon "Le Galilee" am 4. November erbeutet. Er datiert also etwa eine Woche nach dem hier zitierten Schreiben von Garnier-Pages.
Wie die Illustration zeigt, ist diese Nachricht mit einer 20-centimes Ceresmarke frankiert, die mit einem punktierten Rhombusstempel mit der grossen Nummer 305 entwertet ist. Das ist der Nummernstempel von Bar-le-Duc, Meuse. Rückseitig trägt der Faltbrief auch dessen Tagesstempel, 2E/28 OCT. Diese beiden Stempel sind charakteristisch für persönlich anvertraute Briefe, die ein Insasse des Ballons "Le Vauban" bei sich trug.
Der Brief zeigt ein paar zuerst unerklärlich anmutende Besonderheiten: Er ist in zwei Teile zerrissen, die in der linken oberen Ecke fest miteinander durch einen Tropfen roten Siegelwachses verbunden sind. Auf die erste Seite des Textes schrieb jemand mit Rotstift "M. GarnierPages" und unterstrich mit diesem Stift "Paris, le 27 octobre 1870". Diese Veränderungen wurden sicherlich nicht von dem beabsichtigten Empfänger vorgenommen. Und warum sollte ein anderer Inhaber dieses Dokumentes es so verstümmeln? Der Grund kann nur sein, dass der Besitzer des Briefes ihn auswertete. Er wurde also, genau wie der Brief von Pelletan, erbeutet.
Bisher gab es nur spärliche Spuren von aufgefangener französischer Post, abgesehen von der Post aus gekaperten Ballons oder solcher, die Schmugglern abgenommen wurde. Hier aber handelt es sich um Pariser Ballonpost, die nicht bei der Landung beschlagnahmt wurde sondern wahrscheinlich von Epiphane Guillaume, Matrose von Fort Bicetre und Pilot des "Vauban", persönlich nach Bar-le-Duc gebracht und dort ordnungsgemäss von dem französischen Postamt behandelt wurde. Es ist dies eines der ersten Beweisstücke, wenn nicht überhaupt das erste, dass Ballonpost, die sich schon auf dem Landwege befand, auch abgefangen wurde. Das ist eigentlich nicht verwunderlich, da diese Post oft durch besetztes Gebiet befördert werden musste; nur war es meines Wissens bisher noch nicht bewiesen.
Kurz bevor ich dieses Stück erwarb, begann eine Serie über die Post im besetzten Gebiete, die zur Zeit noch nicht beendet ist. c) Aus Akten des Generalpostamtes des Norddeutschen Bundes zitiert Herr Spalink eine Masse konkreter Einzelheiten über französische Post, die freiwillig oder zwangsweise in deutsche Hände geriet.
So heisst es schon am 15. August 1870 in einer postalischen Nachricht von Berlin an die Büros im besetzten Gebiete, dass Post aus dem freien Frankreich aus Sicherheitsgründen einige Tage zurückbehalten werden soll (Forum 6, Seite 14). Und als die erste Ballonpost von Paris am 13. Oktober in Köln eintraf, erkannte man sie nicht als solche, sondern behandelte sie als Schmuggelpost und sandte sie wohl nach Berlin. Von dort wurde am 14. eine Eilnachricht darüber an Bismarck in Versailles geschickt. Er reagierte am 19. mit dem Befehl, dass alle auf unbekanntem Wege nach Deutschland gelangten Briefe einstweilen zurückzuhalten seien und man sich erkundigen solle, wie "das Paket" (es handelt sich um mehrere) überhaupt nach Köln kam (Forum 8, Seite 22). Mitte Oktober reimte man sich dann zusammen, wie das geschah (ibid., Seite 26, 30, 32). Später wurden immer wieder Pakete und einzelne Briefe der Ballonpost im besetzten Gebiete oder in Köln abgeliefert, kontrolliert und zurückgehalten.
Zu meinen kurzen brieflichen Ausführungen über diesen Garnier-Pages-Brief, die Herr Spalink im Forum 7 veröffentlichte (Seite 48), bemerkte er:
In den Akten in Potsdam habe ich keinerlei spezielle Hinweise auf diesen Ballon und seine Post gefunden. Doch wurden durch das GPA (General Post Amt) mehrfach, allein am 31.10.1870 184 "Briefe aus Paris" an Kanzler Bismarck mit der Bitte gesandt, "den Inhalt hochgeneigtest prüfen und diejenigen Briefe, deren Weitersendung unbedenklich erscheint, hierher zurückgelangen zu lassen, nachdem dieselben bei etwaiger Eröffnung zuvor mit dem dortigen Amtssiegel wieder verschlossen worden sind. "
Das erklärt also eine Möglichkeit, wie der Stempel des Auswärtigen Amtes des Norddeutschen Bundes in Versailles auf Post aus Paris kam. Eine andere Möglichkeit beschrieb schon Fran9ois d), nämlich auf Briefe, die mittels Parlamentären durch die Linien befördert wurden.
Jedenfalls hat Glais-Bizoin nie diesen Brief seines Freundes gesehen; und Garnier-Pages wird sich gewundert haben, warum er keine Antwort daraufbekam.
a) Louis A. Chaintrier, "Histoire documentaire et anecdotique des Ballons-Poste du Siege de Paris (1870 - 71)," L'Echangiste Universel 712, Sept. 1959, Seite 209.
b) Dr. Geo. Hirth und Dr. Julius v. Gosen, "Tagebuch des deutsch-französischen Krieges 1870 — 1871," Berlin 1871, Band 3, Spalten 3225 - 3226; siehe auch Times (London), 26. Nov. 1870, S. 10 Sp. 3; sowie Fred Graf von Frankenberg (herausgg. von Heinr. v. Poschinger), "Kriegstagebücher," Stuttgart usw. 1896, S. 200.
c) Friedrich Spalink, "Einfluss und Auswirkungen des Krieges 1870/71 auf die postalischen Verhältnisse," Forum 4, 6, 7, 8, 10 (1979 - 1984).
d) L. Fran9ois, "Les Correspondances par Ballon monte," Amiens 1925,5.60-61.
Bildlegenden:
Abb. l Garnier-Pages, Bild in E. B. Washburne, "Recollections ofa Minister to France 1869 - 1877, "New York 1889, S. 78.
Abb. 2 Vorder- und Rückseite des Faltbriefes mit Nummern- und Tagesstempel von Bar-le-Duc
Abb. 3 Erste Textseite des Briefes mit Rotstiftvermerken oben.