Die Notmarken von Bad Nauheim

(Beilage zum Rundbrief Nr. l, 1955, der Arbeitsgemeinschaft «Deutsche Lokal Ausgaben ab 1945»)




Unser «Globus»-Berichterstatter hatte vor einigen Wochen zusammen mit dem Philatelisten Rechtsanwalt Büning von Wiesbaden - Biebrich und dem Vorsitzenden des Händlerverbandes Hessen Dr. Seelbach eine Unterredung mit dem Leiter des Postamtes Bad Nauheim, Postamtmann Feudner. Sie verlief ebenso amüsant wie aufschlussreich. Der nicht mehr junge Postamtmann, voll Temperament und Initiative, ist auf die Sammler nicht gut zu sprechen. Er grollt nicht nur wegen des Haufens von Briefen, mit denen er bombardiert wurde, sondern noch mehr, weil ihm Zusammenarbeit mit Händlern und Sammlern, mit einem Wort «Mache» vorgeworfen wurde. «Nie im Leben wäre mir die Idee gekommen, dass die Dinger, die ich machte, um der Not abzuhelfen, gesammelt würden und wertvoll sein sollten. Ich habe mich nie um Briefmarkensammeln gekümmert und kannte weder die hiesigen Händler Dr. Seelbach und Bopp noch sonst wo irgendeinen. Das sind ja auch gar keine Briefmarken sondern Zettel, die mir eine Kontrolle ermöglichen sollten. Wir waren damals nur ganz notdürftig untergebracht. Erfahrene Beamte hatte ich nicht. Aber eine Unmenge Angestellte der Hollerit Gesellschaft schickten täglich Päckchen mit Lebensmitteln an ihre Angehörigen. Dazu kamen nicht weniger Angestellte der Besatzung, die ebenso stark die Post in Anspruch nahmen.» «Ich suchte nach einem Mittel, um meine Schalterbeamten zu kontrollieren und die Abfertigung zu beschleunigen. Da fand ich eine dicke Rolle Klebestreifen. Wir hatten einen kleinen Freistempler mit Handbetrieb, mit dem alle Wertstufen hergestellt werden konnten. Mit diesem wurde die Rolle Klebestreifen derart gestempelt, dass jeweils ein Wertabdruck zusammen mit dem Datumstempel eine Marke ausmachte. Das Zählwerk des Freistemplers registrierte die hergestellten Werte und damit war die Kontrolle gegeben. Aber diese Freude war nur kurz: die Rolle war sehr bald zu Ende und der Freistempler war eine ganz verbotene Angelegenheit, weil er noch den alten Adler trug.» - Soweit lautete der erste Teil des Vortrags, der uns zu unserem Erstaunen belehrte, dass die allerersten Notmarken von Bad Nauheim noch ganz unbekannt und anscheinend restlos verloren gegangen sind. Der Postamtmann fuhr fort: «Ich suchte nach einer neuen Lösung und kam dabei auf die Verschlussetiketten des Postamts, die auch in Rollen vorhanden waren, jedes einzelne Stück vom ändern durch Zähnung getrennt.» Wie er dies sagte, holte er aus einer Lade einige zusammenhängende Stücke hervor, die deutlich die Kennzeichen erster Druckversuche zeigten und knautschte sie zusammen. Dr. Seelbach sträubten sich vor Entsetzen die wenigen noch vorhandenen Haare, aber es half nichts mehr: alle Schönheit der «Probeabdrucke» war dahin! «Ich schnitt von einem Handstempel «Zustellgebühr bezahlt», wie sie mehrfach vorhanden waren, die Buchstaben «Zustelle» ab und bedruckte mit dem Reststempel die Etiketten. Um dem Stempel ein besonderes Kennzeichen zu geben, Hess ich das zweite «l» stehen. Dann wurden streifenweise die Wertbezeichnungen 42, 54 oder 70 mit Handstempel eingedruckt und 2 Postbeamte versahen jede Marke mit den Anfangsbuchstaben ihres Namens. Der Schalterbeamte bekam nun eine bestimmte Menge dieser Zettel, über die er nach Beendigung seines Dienstes abrechnen musste. Aber auch damit ging's bald zu Ende. Nun hatten wir auch noch gleichartige Verschlussmarken oder Siegelmarken oder wie man sie nennen will, ohne Eindruck «Bad Nauheim». Das waren solche, die für die Filialpostämter bestimmt waren, die jeweils mit Handstempel ihren Namen eindruckten. Sie waren nicht in Rollenform, sondern es hingen immer nur 3 Stück waagrecht zusammen. Diese kleine Form war für den Gebrauch günstiger. Die langen sich rollenden Streifen waren schlecht zu handhaben gewesen. Ich lebe seit 30 Jahren in Bad Nauheim und fühle mich mit ihm verwachsen. Briefe gehen in alle Welt und geben Zeugnis von ihrem Herkunftsort. Wer kennt nicht das Herzbad Nauheim, und warum sollte ich es nicht auch in den Notmarken der Welt wieder zu Herzen bringen?» «So hatte ich den Plan gefasst, diese Marken sollten eine hübsche gefällige Form bekommen und vor allem in der Mitte ein Herz mit einem Pfeil zeigen. Aber es ging nicht; der Drucker hatte kein Klischee und ich konnte auch keins bekommen. Doch das Nauheimer Wappen war vorhanden, und so kam es zu diesen Marken, die gewiss auch hübsch geworden sind und, wie ich wollte, Bad Nauheim von einer guten Seite zeigten. Inzwischen war die Portoverdoppelung gekommen und diese verursachte nun die hohen Wertbezeichnungen. Um die Streifen von jeweils 3 Marken trennen zu können, sollten sie gezähnt werden. Das gelang nicht. Aber der Drucker brachte die Trennung mittels Durchstichleisten zustande. Schliesslich wurden auch diese Marken von 2 Beamten signiert. Das ist die Geschichte der Notmarken von Bad Nauheim».

«Ob ich das Recht hatte, die Marken herstellen zu lassen? Warum nicht? Darüber habe ich mir nicht den Kopf zerbrochen. Wie stellen Sie sich den Betrieb von damals vor? Heute sitzen wir wieder im schönen Postamt, und wenn auch nicht alles von selbst läuft, so ist es doch gegen anfangs in jeder Hinsicht herrlich. Ich musste doch alles und jedes selbst improvisieren und in Ordnung bringen. Ohne Initiative und eigenen Entschluss kam der Postbetrieb nicht in Schwung. Ein Beispiel: In normalen Zeiten bekommt die Postanstalt die Einschreibzettel von der Oberpostdirektion. Ich hatte auch welche, aber sie waren so völlig zusammengeklebt, dass sie nur zum Teil gebraucht werden konnten. Die R-Zettel haben bekanntlich fortlaufende Nummern. Mit Zetteln, von denen zahlreiche Nummern ausfallen, kann man nichts anfangen. Die Kontrollmöglichkeit ist damit aufgehoben. Sollte ich in Frankfurt bei der OPD neue bestellen? Da hätte ich bei den allgemein trostlosen Verhältnissen lange warten können. Ich hatte ja gar keine Zeit zu warten, nicht einen Tag, da täglich eine Menge gebraucht wurden. Ich Hess also für Nauheim eigene R-Zettel drucken, genau so gut wie die Notmarken. Die OPD Frankfurt/M. hat weder das eine noch das andere gerügt. Ich kann im Gegenteil wohl sagen, dass sie mit meiner Tätigkeit durchaus einverstanden war. Schliesslich ist doch in solcher Notzeit das einzig wichtige, dass der Postverkehr funktioniert, alles andere ist Nebensache.» «Wenn ich geahnt hätte, welch nachträgliche Last ich durch die Anfragen der Sammler bekommen würde, dann hätte ich die Finger davon gelassen. Aber diese Sammelwut war mir ganz unbekannt. - Die Marken wurden anfangs nur von den Schalterbeamten aufgeklebt. Dann fragte mich eines Tages eine Beamtin, - es war z.Zt. der Verwendung der Werte zu 42, 54 und 70 Rpf. - ob sie auch Stücke abgeben dürfe, da sie am Schalter verlangt würden. Ich habe das erlaubt, und später kam das mehr vor. - Dr. Seelbach lernte ich erst bei der letzten Ausgabe kennen. Er hatte von der vorhergehenden Ausgabe gehört und wollte auch davon haben. Aber wir konnten nur noch 2 Marken zu 70 Rpf. finden. Das war der gesamte Rest. Und damit Schluss! Ich bin stolz darauf, das Postamt Nauheim schnell in Schuss gebracht und mit den Notmarken eine brauchbare Lösung gefunden zu haben. Aber die Sammler haben mich wenig glücklich gemacht. Von mir aus braucht's keine zu geben.»

Nachwort
Im Prinzip hat der Postamtmann Feudner von Bad Nauheim mit seiner Darstellung der Dinge 10 Jahre nach der Tat recht, aber seine Notausgaben waren trotzdem überflüssig wie ein Kröpf. Denn auch für ihn galt nach dem Kriege die ADA (Allgemeine Dienst-Anweisung) weiter und bei Markenmangel hatte er den Weg der Barfrankierung zu nehmen. Und schon gar nicht durfte er seine Eigenbauprodukte «ungebraucht» über den Schalter an Sammler und Händler verkaufen. Merkwürdig auch, dass ausgerechnet in der Kleinstadt Bad Nauheim - Kurgäste gab es damals keine und das Städtchen war mit Dienststellen der USBesatzungsmacht vollgestopft, die keine deutschen Postwertzeichen benötigten - derartige «Not»-Massnahmen erforderlich waren, während alle anderen Postämter im RPD-Bezirk Frankfurt/Main ohne diese Spielereien auskamen. Sie erhielten alle, ob in Gross- oder Kleinstädten oder entlegenen Dörfern, seit dem 1. Juli 1945 von ihrer zuständigen Reichspostdirektion in Frankfurt/Main immer ausreichende Mengen von Marken, R-Zetteln, usw. Nur das kleine Bad Nauheim, gerade 25km nördlich von Frankfurt/M. und mit bester Bahnverbindung, war von Dezember 1945 bis in den April 1946 hinein unterversorgt, so dass ganze fünf verschiedene Ausgaben von Notmarken «gemacht» werden mussten; Probedrucke, Abarten, Papier und Zähnungsverschiedenheiten gibt es und selbstverständlich reichlich «postfrische» Ausgaben. Wer die wohl aufgehoben haben wird? 

Hanns Schlotter